Sigmar Gabriel zeigt sich in der FAZ besorgt angesichts des aktuellen Überwachungsskandals. Warum auch nicht, es besteht ja Einigkeit darüber, dass die Überwachung durch NSA und britischen Geheimdienst auf keine Kuhhaut passt. Der „Daten-Kapitalismus“ ist es also, der die freiheitliche Gesellschaft bedroht. Das erlebe ich in Berlin etwas anders. Dort haben wir eine Koalition aus SPD/CDU, was uns ja im Bund droht, falls sich die Grünen keinen Ruck geben mit der CDU/CSU zu koalieren. Seit 2011 wurden eine Reihe von Innenpolitischen Entscheidungen getroffen, die gar nicht mit dem, was Gabriel in der FAZ schreibt zusammen passen. Zuerst bekräftigte der Innensenator (CDU), man wolle weiterhin einen Staatstrojaner erwerben und ihn auch einsetzen. Gleichzeitig stellte die Koalition einen Antrag, der Bund möge mal die Rechtssicherheit dafür schaffen, das Teil überhaupt einzusetzen. Man kauft also eine Überwachungssoftware in der Überzeugung, dass es im Moment noch gar keine Rechtsgrundlage für sie gibt. Die Speicherdauer von Überwachungskameras im öffentlichen Personennahverkehr wurde von 24 auf 48 Stunden verlängert, mit der Begründung bei der S-Bahn würde schon 48 Stunden gespeichert, die 24 Stunden bei der U-Bahn würden die Menschen da nur verwirren. Zuletzt wurde pünktlich zum ersten Mai ein Gesetz verabschiedet, das es der Polizei erlaubt bei Demonstrationen sogenannte „Übersichtsaufnahmen“ anzufertigen, eine Live-Übertragung für die Einsatzleitung sozusagen. In der Realität bedeutet das: Wer in Berlin auf eine Demo geht wird gefilmt. Im Bundesrat hat sich Berlin zur Novellierung der Bestandsdatenauskunft, also des Zugriffes von Deutschen Sicherheitsbehörden auf Online-Telefonbücher, Pins und Passwörter enthalten. Im Februar 2012 stellte sich heraus, dass die Berliner Staatsanwaltschaft seit Jahren Funkzellenabfragen durchführen lies, um z.B. Autobrandstifter zu verfolgen. Funkzellenabfragen sind eine Mischung aus Vorratsdatenspeicherung und Rasterfahndung, deswegen perfide, weil sie als Betroffener überhaupt nicht erfahren, dass sie das Opfer einer solchen Anfrage geworden sind. Auch hier hieß es sowohl von SPD als auch CDU in Berlin, dass die Funkzellenabfrage ein notwendiges Mittel der Strafverfolgung sei.

Das alles ist jetzt nicht grade Ausdruck einer besonders freiheitlichen Gesinnung. Wenn dann im Plenum darüber debattiert wird, dass all diese Gesetze nicht unbedingt zur SPD passen, kommt immer lapidar, nun, es gäbe halt einen Koalitionsvertrag, da hat man das halt so vereinbart. Ich habe mir die Mühe gemacht und die Seiten, die im SPD Regierungsprogramm zum Internet und innerer Sicherheit niedergeschrieben sind durchgelesen. Dem kann ich in weiten Teilen sogar zustimmen, weil auch hier nichts kontroverses steht. Nur: Weiß ich auch, ob die dort angekündigten Maßnahmen zur Verhandlungsmasse eines Koalitonsvertrages werden? Weiß ich, ob der Kampf gegen den Datenkapitalismus und für die Grundrechte tatsächlich ein Hauptaspekt des Regierungshandelns der SPD wird? Oder knickt man wieder ein, wenn es darum geht wenigstens Juniorpartner in einer Koalition mit den Konservativen zu werden? Thomas Oppermann, in Peer Steinbrücks Kompetenzteam für Inneres zuständig, befürwortet z.B. die Vorratsdatenspeicherung. PRISM verurteilen, die Vorratsdatenspeicherung aber gut finden geht jedoch nicht.

Wenn die SPD das, was Sigmar Gabriel geschrieben hat tatsächlich ernst meinen sollte, dann muss sie sich von der Vorstellung verabschieden, es gäbe „Grundrechrtsschonende“ Eingriffe in Bürgerrechte. Ein Eingriff in Bürgerrechte ist ein Eingriff in Bürgerrechte, unabhängig wie schwer. Folter lehnen wir ab. Folter unter ärztlicher Aufsicht lehnen wir auch ab, denn es gibt auch keine „Grundrechtsschonende“ Form von Folter. Es muss in der Strafverfolgung und Gefahrenabwehr unveränderliche Grundsätze geben, von denen auch dann nicht abgewichen wird, wenn es möglicherweise neue Technologien gibt oder ein spektakulärer Anschlag das Bedürfnis weckt, mehr Sicherheit erzeugen zu wollen.

Mit den Datenbergen, die durch Maßnahmen erzeugt werden können, die in Deutschland durch die Strafprozessordnung möglich sind, kann Schindluder betrieben werden. Und auch ein Richtervorbehalt muss kein Garant für den Schutz von Bürgerrechten sein. So stellte der Berliner Datenschutzbeauftragte z.B. bei den erwähnten Funkzellenabfragen fest, das einige genehmigt worden sind, ohne dass eine Straftat vorlag die so schwer war, dass die StPO einen Einsatz der Funkzellenabfrage gestattet.

Ich möchte Gabriel ja glauben und es wäre zu wünschen, dass sich in Deutschland eine breite Opposition gegen den Überwachungs- und Sicherheitswahn stellt. Politisch geht das nur mit der SPD. Dann die SPD aber auch das tun, was die Amerikaner „Walk the Talk“ nennen. Ankündigung und Handeln müssen im Einklang sein. Wer Bürgerrechte schützen und Datenkapitalismus stoppen möchte, der muss diesen Themen auf der politischen Agenda die Priorität geben, damit diese nach der Wahl eben nicht unter den Teppich gekehrt werden. Langfristig sollte sich die SPD Gedanken darüber machen, ob sie überhaupt noch mit der CDU/CSU koalieren möchte, wenn sie Bürgerrechte so ernst nimmt. Denn eins hat die Vergangenheit gezeigt: Selbst wenn die SPD der große Partner in einer großen Koalition ist, kann sich die CDU mit ihren sicherheitspolitischen Big-Brother-Fantasien durchsetzen.

Als erste Maßnahme sollte Gabriel die Sozialdemokraten im EU-Parlament dazu bringen, einen Sonderausschuss zu PRISM und TEMPORA einzurichten, wie von Georg Mascolo in der FAZ gefordert. Eine von mir eingereichte Petition an das EU-Parlament zu diesem Thema wird nach Aussage eines Mitgliedes des Petitionsausschusses vor dem 22.9. nicht mehr behandelt werden. Die Urheberrechtsdebatte aus dem letzten Jahr hat mich gelehrt, dass solche öffentlichen Diskussionen oft zu nichts führen. Das darf diesmal nicht passieren.