Angesichts des Sondierungspapiers zwischen Union und SPD stellt sich die Frage, wie lange die Regierungsverantwortung übernehmen wollenden Politikerinnen und Politiker drängende Fragen unserer Zeit weiter vor sich herschieben wollen. Wäre Deutschland ein Mehrparteienhaus, es wäre bis auf die Grundmauern sanierungsbedürftig, doch statt die Erneuerung zu planen streitet sich die Eigentümerversammlung über die Farbe neu zu kaufender Tapeten.

Die Industrialisierung schaffte eine neue, eine entrechtete Klasse von Menschen, die Arbeiterklasse. Die aus dieser technologischen und gesellschaftlichen Umwälzung entstandene Sozialdemokratie machte es sich zur Aufgabe, diese Menschen über die Mittel der Demokratie, also eben nicht der gewalttätigen Revolution, an dem Wohlstand zu beteiligen, den sie durch ihre Arbeit schufen. Doch es ging nicht nur um materiellen Wohlstand: Es ging um Arbeitnehmerinnenrechte, gesellschaftliche und demokratische Teilhabe, gesellschaftlichen Aufstieg durch Bildung, es ging um eine allgemeine, uneingeschränkte Solidarität mit den Mitmenschen, die aus der Erkenntnis stammte, dass sich nur eine zutiefst solidarische Gemeinschaft den Verwerfungen entgegen stellen konnte, die durch die Industrialisierung entstanden.

Mit der Digitalisierung, dem Internet und dem vernetzten Rechnen stehen wir nun wieder vor einem gesellschaftlichen Umbruch, dessen Folgen schwer abzuschätzen sind, mit dessen Folgen wir uns noch die nächsten 100 Jahre auseinander setzen werden müssen. Dabei gibt es drei Hauptlinien der Veränderung: Erstens sind neue Unternehmen, Internetunternehmen entstanden, deren Geschäftsmodell kein revolutionär neues ist, die durch ihre weltweite Verfügbarkeit unabhängig von Zeit und Raum jedoch alle bisherigen Unternehmen unter massiven Druck setzen. Dabei profitieren diese Internetunternehmen von gesetzlichen Regelungslücken, die deswegen bestehen, weil kein Parlament der Welt diese Unternehmen vorhersehen konnte. Sie stellen den Gesetzgeber vor die Herausforderung, rechtliche Lösungen für Probleme zu entwickeln, die es in dieser Form noch nie gab. Mit der Konsequenz, dass sich der Gesetzgeber meistens scheute, Internetunternehmen ordnungspolitische Grenzen zu setzen. Diese Scheu war und ist noch immer auch eine Folge einer Unlust weiter Teile der Politik, sich mit den Gesellschaftlichen Veränderungen, die durch diese Unternehmen erzeugt werden, auseinander zu setzen.

Zweitens hatte das Internet eine Informationsexplosion zur Folge, die wahrscheinlich nur mit der zu vergleichen ist, die durch den Buchdruck entstand. Doch werden nicht nur andere Meinungen und Anschauungen verbreitet, es finden sich auch Gleichgesinnte, im Guten wie im Schlechten. Mit der daraus resultierenden Polarisierung der Gesellschaft und ihren Ursachen setzt sich die Politik nicht in dem Maß auseinander, das Notwendig wäre, um ihnen ordnungspolitisch zu begegnen. Durch das Internet ist es buchstäblich möglich geworden, in seiner eigenen Wahrnehmung der Welt, in seiner eigenen Realität zu leben, ohne dass dieses Bild durch Fakten erschüttert werden würde. Eine solidarische Gemeinschaft braucht aber einen gemeinsamen Anknüpfungspunkt für das gesellschaftliche Miteinander, sie braucht diese Anknüpfungspunkte schlussendlich auch für eine Akzeptanz der demokratischen Strukturen, die gesellschaftlichen Zusammenhalt und Wohlstand sichern sollen.

Drittens stellt sich angesichts der Verschmelzung des analogen und digitalen Raumes die Frage, welche staatlichen Funktionen jetzt von Internetunternehmen erfüllt werden. Im analogen Raum wird Identität durch den Staat hergestellt und gesichert, an die Staatsbürgerschaft knüpfen sich entsprechende Rechte und Pflichten. Im digitalen Raum werden Identitäten vor allem durch Soziale Netzwerke erzeugt, hier unterliegen Nutzerinnen und Nutzer der Willkür der allgemeinen Geschäftsbedingungen des jeweiligen Dienstleisters, den sie nutzen möchten. Dabei ist diese Nutzung des digitalen Raums immer weniger eine freie Entscheidung, sondern in den meisten Fällen überhaupt erst Voraussetzung, um am analogen Raum teilhaben, mit seiner Umwelt interagieren zu können. Wo sich der Staat in seinem Handeln der demokratischen Kontrolle unterwirft, unterwirft sich das Internetunternehmen niemanden. Das ist schlussendlich ein Rückschritt hinter die kulturhistorische Leistung und Erkenntnis des Menschen, mit der Demokratie innergesellschaftliche Konflikte nicht durch Gewalt, sondern durch demokratische Kompromissfindung zu lösen. Denn ohne demokratische Kontrolle können sich auch keine allgemein akzeptierten Regeln finden, denen sich zu unterwerfen alle bereit sind.

Diesen Umwälzungen, Herausforderungen aber auch Chancen kann nicht mit Konzepten begegnet werden, die in der Vergangenheit auf gänzlich andere Sachverhalte angewendet worden sind. Wer zum Beispiel weiterhin Vollbeschäftigung fordert, ignoriert den singulären Charakter der Kriegsbedingten Vollbeschäftigung während des sogenannten Wirtschaftswunders, wer Vollbeschäftigung fordert setzt sich nicht mit den Möglichkeiten auseinander, die in der Arbeitswelt durch die Digitalisierung entstehen. Wer Vollbeschäftigung fordert stellt sich schlussendlich nicht die Frage, ob Menschen nicht etwas besseres vom Leben zu erwarten haben, als einer Entwürdigen Beschäftigung nachgehen zu müssen, die grade so die Existenz sichert. Wer sich weiterhin allein an den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern orientiert, verkennt, dass die Digitalisierung eben keine homogene Klasse von Entrechteten erzeugt, sondern Menschen in allen Teilen der Gesellschaft, unabhängig vom Bildungshintergrund betroffen sind. Denn nachdem in der Industriellen Revolution die Arbeitskraft durch Kraftmaschinen automatisiert wurde, wird als eine Folge der digitalen Revolution das Denken automatisiert und automatisiert werden. Tätigkeiten, von denen man dachte, sie werden nie von einer Maschine durchgeführt werden können, werden in diesem Moment von Maschinen durchgeführt. Es ist illusorisch glauben und zu hoffen, dass dieser Rationalisierungsprozess, der eine unverkennbare Eigenheit aller wirtschaftlichen Prozesse ist, an irgendeinem Punkt halt machen würde. Im Gegenteil: Es ist davon auszugehen, dass alles automatisiert werden wird, was einen messbaren Input und Output hat. Natürlich gibt es die, die behaupten, mit jeder technischen Neuerung wären auch neue Berufe, neuer Wohlstand für alle entstanden. Allein sind sie bisher den Beweis Schuldig geblieben, dass es auch tatsächlich so ist. Denn weltweit kann in den Industrialisierten Ländern der Trend beobachtet werden, dass es vor allem die qualifizierten Jobs in der Mitte sind, die wegfallen, während vor allem der Jobsektor der gering qualifizierten steigt. Es ist illusorisch anzunehmen, man könnte nach der nächsten Rationalisierungswelle zum Beispiel alle arbeitslos gewordenen Kraftfahrer zu gut bezahlten Programmierern umschulen, denn selbst hier gibt es Bestrebungen, diese teuren Fachkräfte wegzurationalisieren.

Die Sozialdemokratie müsste sich also ihrer historischen Wurzeln besinnen und es für sich zur Aufgabe machen, die digitale Revolution mit demokratischen Mitteln zum Wohle aller zu gestalten. Das erfordert vor allem eine gesamtgesellschaftliche Vision für die Zukunft, das erfordert eine neue gesamtgesellschaftliche, uneingeschränkte Solidarität mit den Mitmenschen, insbesondere mit denen, die durch diese Umwälzungen zu kämpfen haben. Das bedeutet Respekt für andere Lebensentwürfe, aber eben auch, diesen Respekt vor anderen Lebensentwürfen bei allen einzufordern, die Teil dieser Gesellschaft sind.

Diese Vision darf sich natürlich nicht nur auf die Digitalisierung und Ihre Folgen beziehen, sondern muss auch bisheriges staatliches Handeln und Gesetze daraufhin überprüfen, ob sie noch zeitgemäß sind. Und schlussendlich sehen wir uns mit der von Menschen verursachten Klimakatastrophe, der Vernichtung unserer Lebensgrundlage als Spezies, den damit verbundenen internationalen Spannungen, möglicherweise mit Problemen Konfrontiert, die alles Erdachte und Erhoffte radikal über den Haufen werfen werden.

Bei dieser Vision für die Zukunft braucht niemand sozialdemokratisches Micromanagement. Um im Bild des Hauses zu bleiben: Wenn es durch das Dach regnet und die Wand aufgrund von Wasserschäden schimmelt, dann reicht es eben nicht, eine neue Tapete anzubringen und die besten Tapeziererinnen und Tapezierer zu haben, denn es werden hierdurch nur die Symptome, nicht die Ursachen bekämpft.

Doch ist äußerst fraglich, ob die SPD trotz all ihrer Bekenntnisse sich erneuern zu wollen, tatsächlich auch in der Lage ist, sich in irgendeiner Form zu erneuern. Denn diese Erneuerung müsste angesichts der bevorstehenden Herausforderungen radikal sein. Wie glaubwürdig ist eine Partei, die von personeller Erneuerung spricht, ohne sich personell zu erneuern? Wie glaubwürdig ist eine Partei, die von struktureller Erneuerung spricht, ohne sich strukturell zu erneuern? Wie glaubwürdig ist eine Partei, die nicht in der Lage ist, den Fehler der Agenda 2010 offen einzugestehen und bei den Betroffenen für die verursachten gesellschaftlichen Verwerfungen um Verzeihung zu bitten? Was soll die SPD in den nächsten 10 Jahren anders machen, was sie die letzten 10 Jahre nicht schon hätte anders machen können?

Dabei sind diese innerparteilichen Beharrungskräfte allzu menschlich. In einer Zeit, in der alle gesellschaftlichen Institutionen, alle Unternehmen, alle Menschen mit dem Wandel zu kämpfen haben, wieso sollte es hier Parteien anders, besser gehen? Von Menschen, die die Partei dorthin manövriert haben, wo sie jetzt steht, ist nicht zu erwarten, dass sie spontan das Ruder herum reißen und etwas tun, was sie noch nie getan haben. Von Parteimitgliedern, die diese Menschen in Verantwortung gewählt haben, ist nicht zu erwarten, dass sie auf einmal Menschen in Verantwortung wählen, die das genaue Gegenteil von dem machen, was sie an den bisher gewählten schätzten. Von Menschen, die noch nie in einer Partei aktiv waren, ist nicht zu erwarten, dass sie ihr Leben verlassen, um sich intensiv der Politik und ihrer Erneuerung zu widmen. Hätte die SPD zur industriellen Revolution bereits seit 150 Jahren existiert, wäre sie möglicherweise auch nicht in der Lage gewesen, auf die entstehenden Umwälzungen zu reagieren.

Und da eine Organisation selten mit sich selbst bricht, könnte es sein, dass die SPD, trotz guter Voraussetzungen, an ihren eigenen Beharrungskräften zugrunde gehen wird. Guckt man, wie es den sozialdemokratischen Parteien im europäischen Ausland in den letzten Jahren ergangen ist, ist dies nicht mal besonders unwahrscheinlich. Dabei sollte man sich nicht täuschen: Dieser Prozess wird unabhängig davon voran schreiten, ob die SPD im Bund eine Große Koalition eingehen wird oder nicht. Denn auch in der Opposition wird sich diese Partei aufgrund der erwähnten Beharrungskräfte nicht erneuern. Tja.