Liebe Andrea Nahles,
in der Süddeutschen Zeitung wirst Du heute wie folgt zitiert:
Sie führe die Partei mit all ihrer „Kraft, Leidenschaft und Zuversicht“, sagte Nahles, „wenn jemand meint, es schneller oder besser zu können, soll er sich melden.“
Dann melde ich mich mal, denn ich meine es besser zu können und vielleicht sogar schneller, wobei ich nicht weiß, warum schneller machen gut sein soll. Wenn ich mit etwas Erfahrung habe, dann mit dysfunktionalen Parteien und oh boy, unsere Partei macht auf mich grade einen extrem dysfunktionalen Eindruck. Und genau wie bei den Piraten findet keine tatsächliche Analyse oder Behebung der Probleme statt. Das wird durch magisches Denken ersetzt, die nächste Wahl werde schon wieder gewonnen werden und dann ist alles wieder gut.
Aber schaut man sich die SPD seit Gerhard Schröder an, so gewinnen wir im Grunde genommen seit 1998, also seit 20 Jahren keine Wahlen mehr.
Der SZ sagst Du weiter:
„Ich möchte wissen, was es bringen soll, wenn man einen Parteitag vorzieht oder das Personal austauscht. Ich möchte auch, dass die Motive und Anliegen der Leute offen auf den Tisch gepackt werden. Das ist es, worum ich bitte.“ Es sei eine Situation entstanden, in der „in dieser Klarheit miteinander“ geredet werden müsse.
Was es bringt den Parteitag vorzuziehen kann ich Dir tatsächlich nicht sagen, vielleicht herrscht bei einigen die Stimmung „lieber ein Ende mit Schrecken, als Schrecken ohne Ende“. Was es aber bringt das Personal auszutauschen kann ich Dir sagen: Der berühmt berüchtigte frische Wind™.
Was finden die Leute denn an Robert Habeck und Anna Baerbock geil? Dass sie die nicht schon mit 11 Jahren in der Tageschau gesehen haben, so wie ich Dich in den 1990ern, als Du Juso Chefin warst. Was fanden die Leute denn an Martin Schulz geil? Dass da jemand von außen kam, der nicht mit dem assoziiert wurde, wofür die SPD heute steht: Kuddelmuddel und am Ende machen die doch eh jeden Scheiß der CDU mit. Und was fanden die Leute an den Piraten geil? Dass da endlich junge (!!!) Menschen unverstellt Politik gemacht haben, sich den Spielregeln des Mediendiskurses entzogen und etablierte Politiker, so wie ich damals bei Kurt Beck, zum platzen brachten.
All das hat die SPD heute nicht. Die SPD ist im Bund in einer abusive relationship mit der CDU/CSU, weil man sich noch immer nicht klar zu einem Rot/Rot/Grünen Projekt bekennen konnte. Mir erzählen Genoss*innen, vollkommen im Stockholm Syndrom gefangen, „Ja ohne uns würde die CDU/CSU ja noch schlimmere Sachen machen …“, aber die Frage ist doch mit wem? Fakt ist doch, dass von den 13 Jahren Angela Merkel, die wir jetzt haben, neun von uns ermöglicht wurden. Obwohl Peer Steinbrück 2013 die Möglichkeit gehabt hätte das alles zu beenden, wenn wir das Wagnis eines Rot/Rot/Grünen Projektes eingegangen wären. Mir kann doch niemand sagen, dass Peer Steinbrück ein schlechterer Kanzler als Angela Merkel gewesen wäre und die letzten fünf Jahre schlechter bewältigt hätte als sie.
Langer Rede kurzer Sinn: Politik ist eben nicht nur Inhalte und das Berufen auf die berühmt berüchtigte Sacharbeit, Politik ist auch glaubwürdiges Personal, das dann auch den Teppich verkauft bekommt. Im Moment geht die Schallplatte so: Ja wir machen gute Politik, aber keiner kriegt es mit. Ja bitte, dann mach was, dass es die Leute mitkriegen. So wird es zur weinerlichen self fulfilling prophecy. Und darüber hinaus ist dem sogenannten kleinen Mensch auf der Straße das sozialdemokratische Mikromanagement ziemlich egal. Klar können wir uns selbst für Rente oder Gute-Kita-Gesetz von hier bis Bishkek abfeiern, aber meine Güte, wenn man Steuern in einer G8 Nation wie Deutschland entrichtet, dann kann man auch erwarten, dass Grundlegende Institutionen des Sozialstaats einfach funktionieren. Wir führen uns auf wie ein Typ, der sich nicht an der Hausarbeit beteiligt und von seiner Frau überschwänglich gelobt werden will, wenn er einmal im Monat die Spülmaschine ausgeräumt hat.
Die SPD muss eine Partei sein, die sich auf ihre historischen Wurzeln beruft und die sind: Die Folgen des technologischen und gesellschaftlichen Wandels zu demokratisieren. Alle am Fortschritt, der stattfindet zu beteiligen und Insbesondere den Entrechteten sowohl eine Stimme, als auch die Möglichkeit für gesellschaftlichen Aufstieg zu geben. Dazu kommt noch, angesichts der von Menschen verursachten Klimakatastrophe, die Notwendigkeit einer radikalen Hinwendung zur Ökologie. Klar können wir seit an seit mit Braunkohlearbeitern stehen, aber was für eine kurzsichtige Politik machen wir, wenn die Kinder dieser Braunkohlearbeiter in einer Welt aufwachsen müssen, die wie eine Freilichttheateraufführung von Mad Max aussieht?
Du willst Motive und Anliegen der Leute wissen, die meinen es besser zu können. Ich bin der Meinung, dass eine Partei wie die SPD notwendig ist. Allerdings haben wir kein Recht darauf, dass Menschen uns wählen, nur weil wir die älteste Partei Deutschlands sind und in der Vergangenheit geil abgeliefert haben. Es kann gut sein, dass die SPD wie in anderen Ländern Europas verschwindet, es wäre schade drum, aber mit Sicherheit nicht unerklärlich.
Machen wir uns nichts vor, am Ende des Tages werde ich nicht SPD-Vorsitzender. Deine Offensive in der SZ ist eine rhetorische Figur, die Teile der Partei hinter Dir zu versammeln, die den jetzigen Kurs noch geil finden.
Aber hier mal konkrete Veränderungen an der Struktur der Partei:
- Verbindliche Online-Beteiligung der gesamten SPD-Basis an der programmatischen Ausrichtung der Partei durch Internet-Abstimmungen. Damit meine ich nicht nur Abstimmen, sondern auch das gemeinsame Erarbeiten von Inhalten.
- Harte Quotierung auf allen Listen und in allen Gremien: mindestens 50% Frauen, mindestens 25% Leute unter 35, mindestens 25% Neue, mindestens 25% Migrationshintergrund.
- Standardmäßige Urwahl der Spitzenkandidat*innen und des Parteivorsitzes.
- Innerparteiliche Nominierung von Kandidat*innen muss so geöffnet werden, dass die interessierte Öffentlichkeit daran beteiligt wird. Wer bei einer öffentlichen Vorwahl nicht besteht, der/die holt auch nicht den Wahlkreis.
- Personelle Entkernung und Neuanfang des Willy-Brandt-Hauses: Ob Nils Minkmars „Der Zirkus“ oder Markus Feldenkirchens „Die Schulz Story“, es wird deutlich, dass die Parteizentrale wohl nicht mehr richtig funktioniert. Da helfen wahrscheinlich auch keine Reformen, da hilft nur ein kompletter Neuanfang. Eine solche interne Verkrustung war im übrigen auch nicht ganz unerheblich am Niedergang der Piratenpartei.
Was die Koalition mit CDU/CSU angeht, so hätte ich vor allem einen Punkt: Kündigung des Koalitionsvertrages bei Beibehaltung der Koalition. Bis 1998 hat die Bundespolitik in Deutschland auch sehr gut ohne Koalitionsverträge funktioniert. Grundlage unserer Politik im Bund muss das ganze Parteiprogramm sein und wir sollten auch versuchen es durchzusetzen. Und wenn die CDU/CSU nicht mitzieht, müssen wir halt verhandeln. Aber Themenbezogen und nicht anhand eines Korsetts, das der Koalitionsvertrag darstellt. Zu oft werden auch sinnvolle Anliegen der Opposition mit der Begründung abgetan, der Koalitionsvertrag würde das nicht hergeben. Zu oft wird die Zustimmung zu Anliegen, die nicht sozialdemokratisch sind damit begründet, dass man das ja so im Koalitionsvertrag vereinbart habe. Das muss ein Ende haben. Die CDU/CSU muss sich über eines klar werden: Sie regiert nicht mit uns, sondern sie regiert wegen uns. Und wenn die CDU/CSU das nicht will, dann kann sie ja nochmal Jamaika probieren oder es gibt halt Neuwahlen. Aber besser kämpfen als vor Angst sterben.
So liebe Andrea Nahles, ich war mal führendes Mitglied einer Partei, die Bundesweit in den Umfragen bei 13% stand, Du bist Vorsitzende einer Partei, die Bundesweit in den Umfragen bei 14% steht. Ich hab Dir erklärt, warum ich der Meinung bin, es besser und vielleicht sogar schneller zu können. Ich freue mich, von Dir zu hören.
Lieber Herr Lauer,
danke für Ihren Beitrag zum Thema SPD und Frau Nahles.
Für mich ist und war die SPD eine Partei, die sich nicht als Kanzlerwahlverein versteht, sondern die den Anspruch erhebt, Diskussionen um die gesellschaftliche Zukunft zu führen. Wenn das SPD-Leitungspersonal in Berlin (ich nenne es bewusst nicht Führungspersonal, denn da wird nicht geführt) nicht schnell von ihrem „wir machen weiter wie bisher“ herunterkommt, dann wird diese Partei genauso in der Bedeutungslosigkeit verschwinden, wie es den Sozialisten in Frankreich oder in Italien passiert. Im Vorfeld der Diskussionen Pro und Contra GroKo sind rund 25.000 Menschen in die SPD eingetreten. Das hat doch auch gezeigt, wie sehr den Menschen diese Partei am Herzen liegt.
Ich meine, im Rahmen eines Mitgliedervotums nach intensiven Diskussionsrunden an der Basis, müssen jetzt neue Kandidaten gefunden und gewählt werden, die führen können und die die Parteibasis wieder aus ihrer negativen Stimmung reißen .
Hallo Christopher,
Du hast in Vielem Recht, aber…findest du wirklich ihr macht gute Sacharbeit? Findest Du es richtig, das Voll Erwerbsgeminderte Niemals aus Armutsrenten von unter 300€ herauskommen? Nur Verbesserungen für jeweils Neue Kranken wurden ab 2014 schrittweise verbessert! Die, die schon lange Erwerbsgemindert sind, fallen durch Alles! Auch werden Erwerbsgeminderte 1. und 2. Klasse geschaffen! Ist das GG Art. 1 nicht verletzt?
Eine Grundrente von 10% über H4 ( 457€) aber erst nach 35. Jahren! Beides ein Schlag ins Gesicht!
Mietpreisbremse funktioniert nicht usw.
Was würdest DU denn ändern?
Das gehört eigentlich in Deine Antwort an Nahles dazu, oder?
Aber toll, das Du ihr geantwortet hast!
Susanne
Sehr geehrter Herr Lauer,
Ich bekomme seid 2001 eine Erwerbsminderungsrente von Netto:345,52 Euro. Meine Rentenerhöhung in 2018 war genau 1,19 Euro mehr wie die Hartz 4 Empfänger an Erhöhung bekommen haben. Ich habe für diese großzügige Erhöhung meiner Rente 20 Jahre gearbeitet und 10 Jahre nebenbei 1 Angehörigen gepflegt. Fragen bei SPD Politiker habe ich mit den Sätzen beantwortet bekommen : Stichtage,mit der CDU/CSU ging es nicht das wir auch Verbesserungen unserer Rente bekommen oder Bestandsschutz. Ich frage mich die ganze Zeit, welcher Schutz die SPD meint. Den Schutz das unsere Renten noch mehr schrumfen, warum wird nicht das umgesetzt was der Bundesrat beschließt?(Bestandsrentner einer EM-Rente müssen 2019 auch die gleichen Zurechnungszeiten wie Neurentner bekommen) Wo ist die SPD die es früher einmal gab, wo Gerechtigkeit, Glaubwürdigkeit noch eine Bedeutung hatten!
Bitte um Antwort, vielen Dank im vorraus
Mit freundlichen Grüßen
Barbara Demski
Warum kann die SPD sich nicht auch für Nichtmitglieder öffnen wie die Grünen?
So bekommt man Input von außen. Z.B. bei der Programmdiskussion. Abstimmen können ja dann die Parteimitglieder.
Keine Frage, dass Du, und ziemlich sicher auch ein paar andere helle Köpfe, das besser könnten als Frau Nahles.
Bekommt die Frau Nahles diesen Blogpost auch als (e)Mail? Sollte sie ernsthaft antworten, würde mich das interessieren. Ich glaube zwar nicht, dass die SPD schon weit genug gesundgeschrumpft wurde, um strukturelle Veränderungen zuzulassen, aber ich finde es gut, dass du daran arbeitest, denn auch die Genossinnen und Genossen müssen den Weckruf hören.
Durch meine Eltern, beide seit Jahrzehnten aktive SPD-Mitglieder und Wahlkämpfer, bin ich sozialdemokratisiert aufgewachsen. Allerdings konnte ich mich – unter anderem wegen des Personals und verkrusteten Strukturen etc. – bisher nicht dazu durchringen, selbst Mitglied zu werden. Bei der letzten Bundestagswahl habe ich mich zudem sehr schwer getan, die SPD zu wählen, bei der Landtagswahl in Hessen Ende Oktober habe ich das erste Mal seit ich wählen darf, den Grünen meine Stimme gegeben. Es bräuchte mehr frischen Wind (Martin Schulz hat anfangs auch mich begeistert) und Leute wie Sie, die ihre Stimme erheben und tatsächlich etwas ändern wollen. Wenn ich SPD-Mitglied wäre und Sie als Vorsitzender kandidieren, ich würde Sie wählen. Sie haben mir aus der Seele gesprochen. Weiter so :-)
Lieber Christopher,
Danke für den großartigen Beitrag. Es gibt mir Hoffnung, zu sehen, dass es in der SPD noch Politiker gibt, die willens sind zu kämpfen und vielleicht sogar mal anzuecken. Und damit meine ich sicherlich nicht (das muss man ja anscheinend heute dazusagen) dass sich alle ein bisschen mehr wie die AfD verhalten sollten, sondern dass ich mir eine durchsichtigere Politik wünsche, in der Probleme offen angesprochen und dann auch gelöst werden können. Ich hoffe, Du hast Erfolg. Wie kann ich unterstützen?
Viele Grüße,
Birte
– word –
Starkes Statement Christopher!
Leider stelle ich nach einer wirklich sehr gut tuenden Euphoriephase auch in dieser Angelegenheit fest: „God damn – Der Ehrliche ist der Dumme“ :'(
Lass dich nicht unter kriegen bzw. entmutigen…
Für dein Studium und natürlich deinen politischen Weg alles Gute und viel Erfolg!